Kirchwerder – eine Liebeserklärung

Hamburg ist ja mit 755,26 km2 bekanntermaßen nicht sehr klein. 2401 Einwohner pro km2 im Durchschnitt. Die 32,3 km2 im Südosten heißen Kirchwerder und haben 283,5 Einwohner pro km2*. 9156 waren es laut Wikipedia Ende 2011. Kirchwerder ist Teil der Vierlande, zu denen auch noch Curslack, Altengamme und Neuengamme gehören.

Hier wohne ich.

Manche belächeln mich dafür, manche halten mich wahrscheinlich für bekloppt.** Weil ich Orientierungslegasthenikerin bin, fahre ich mit dem Bus in die Stadt. Das dauert. Ich fahre unheimlich gern Bus. Das glaubt mir auch keiner.

Ich rede mir meinen Wohnort nicht schön. Das muss ich nicht. Ich bin hier nämlich freiwillig hergezogen und möchte nicht mehr weg. Das heißt nicht, dass alle anderen auch herziehen sollen. Obwohl in Fünfhausen sicher ein Haus frei ist. Fünfhausen ist ein Ortsteil von Kirchwerder, in dem jede Woche fünf Häuser gebaut werden. So kommt es mir jedenfalls vor.

Wenn mich Freunde besuchen, kommen sie, um sich zu erholen (trotz der vorhandenen Kinder!!) – und sind heilfroh, wenn sie sich wieder in die Stadt begeben dürfen. Win-win-Situation vom Feinsten. Es gibt hier sogar eine Cocktailbar.

Es gibt viel zu entdecken auf so einem Deich

Es gibt viel zu entdecken auf so einem Deich

Auf dem Deich blöken die Schafe, der Storch stolziert durchs Grün. Wenn abends nur noch eine der beiden Buslinien fährt, muss ich übers Feld gehen, um nach Hause zu kommen. Dort quaken die Frösche in den Gräben und ich habe einen unglaublichen Sternenhimmel über mir. Meine Füße werden nass vom Gras, aber ich bin ja auf dem Nachhauseweg.

Morgens gehen wir bei Else Brötchen kaufen. Da wird noch selbst gebacken, aber nicht von Else, denn die ist knapp 88 und für den Verkauf zuständig. Wenn man Glück hat, steht sie nicht an der Brötchentheke, sondern an der Kasse. Sie hört nämlich nicht mehr einwandfrei, rechnen kann sie aber noch. Manchmal vergisst sie, was sie schon abgerechnet hat und was nicht, weil sie nebenher Geschichten erzählt. Wenn man ihr dann zu helfen versucht, wird es oft verwirrend. Niemand wird grantig, wenn es an der Kasse länger dauert, denn das weiß man vorher. Eilige bestellen ihre Brötchen vor, holen sie morgens nur raus und zahlen einmal pro Woche. Das könnten wir auch tun, aber wir schätzen die Spontaneität bei der morgendlichen Essensauswahl.

Else hat natürlich auch einen Nachnamen, der ist aber unerheblich, denn hier duzt man sich. Trifft man jemanden auf der Straße, wird sich begrüßt. Natürlich weiß so ziemlich jeder so ziemlich alles über so ziemlich jeden, damit muss man leben. Für mich hat es nichts Unangenehmes, denn gelästert wird nicht, nur festgestellt. Neugierige Fragen werden direkt gestellt, es wird nicht hintenrum spekuliert. Das finde ich okay.

Ich mag die Ruhe hier draußen, die trotzdem nicht tödlich ist. Ich mag die Felder und ich liebe die Elbe mit den sehr hohen Deichen. Wenn kein Hochwasser ist, gibt es hier sogar Sandstrände zum Baden. Das Einzige, das mir fehlt, ist Wald. Die Landschaft hier ist weit und offen, da würde Wald gar nicht passen, aber ich bin eben ursprünglich auch nicht von hier.

Kirchwerder hat eine sehr schöne Kirche (wie übrigens alle Teile der Vierlande, im Schönekirchenbauen ist man hier echt gut) und eine Mühle. Kaffee trinkt man mit den Bikern am Imbiss des Fähranlegers oder hier. Als mich einmal eine Freundin aus Hamburg mit Mann und Kind besuchte, sprach sie sinngemäß zu ihrem Gatten: „Das Haus finden wir ganz leicht, es hat ein Reetdach.“ Von meinem Arbeitszimmer aus sehe ich vier Reetdachhäuser. Das allein reicht also nicht als Beschreibung.

Man trifft sich an der Fähre

Man trifft sich an der Fähre

Hier draußen auf dem Land sind Drei-Generationen-Häuser noch üblich, aber nicht die Regel. Oft baut sich der erwachsene Nachwuchs ein Haus im Garten der Eltern. Die Jugendlichen wollen weg von hier, als Erwachsene kommen sie gern wieder, auch zum Wohnen. Es ist halt so nett hier.

Meinen Vater hat Else übrigens für einen Doktor gehalten. Oder einen Professor. Weil er so schön spricht.

Die Inspiration, über meinen „Hood“ zu schreiben, kommt von Maximilian Buddenbohm, bevor ich wieder vergesse, das zu erwähnen.

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*Habe ich das richtig ausgerechnet, dass ich allein theoretisch über 11.000 m2 Platz habe?

**Das sagen sie natürlich nicht. Aber sie fragen mit einem subtilen Kopfschütteln: „Warum?“

19 Kommentare
  1. Antje sagte:

    Ach, schön, Gesa, kann ich so gut verstehen. Ich liebe es auch, nicht in Ottensen zu leben ;)) Ich will Dich auch endlich mal besuchen kommen – und Du bist auch herzlich nach Grabow, in die Stadt der Küsschen, eingeladen!

  2. BFreith sagte:

    Ich kann dich auch total verstehen! Und wenn deine Kinder mal weeeeiiiit im Garten laufen wollen, kommt ihr einfach mal zu mir zu Besuch. Wenn Antje zu dir kommt, möchte ich mich wieder anwanzen, wegen der Cocktailbar. Wo doch die Bedienung schon fast mein Freund ist… ;)

    • Gesa sagte:

      Das kommt davon, wenn man zwischen Kinder-ins-Bett-Bringen und Feierabend noch was macht. Kam mir beim Schreiben schon komisch vor, aber ich habe dann nur nach Schreibfehlern geguckt. Schön blöd, tschuldigung!

  3. Paula sagte:

    Nun hast Du doch unser Geheimnis verraten, wie schön es in Kirchwerder ist! Zugegeben, eine herbe Schönheit, eben typisch kultivierte Marschlandschaft. Wir machen seit 30 Jahren Ausflüge zu Euch, oder tummeln uns vorher in Ochsenwerder beim Surfshop oder im Oortkatensee. Alle paar Monate gucke ich nach Anzeigen zum Häuserkauf, leider sind die viel zu teuer. Und die Zollemnspieker Fähre nutzen wir auch manchmal, ein kurzes Abenteuer. Da würde ich auch gern wohnen, vielleicht später mal

    • Gesa sagte:

      Ja, vielleicht hätte ich die Klappe halten sollen :) Was Häuser angeht, gibt es durchaus auch günstigere, man muss halt immer wieder gucken.

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