„Nächte der Toten“: Interview mit Tim Vogler

„Fast rauschartig“

„Nächte der Toten“ ist der zweite Band der Reihe „Berlin Metropolis“ von Tim Vogler.

Ich habe selten ein Buch gelesen, das auf so vielen verschiedenen Zeitebenen spielt. Da haben wir einerseits das Berlin des Jahres 2049, andererseits aber seine separaten Viertel, in denen die Menschen wie zur Kaiserzeit bzw. zur Zeit des geteilten Berlins leben. Damit ihr euch das vorstellen könnt, gibt es hier den Trailer zum ersten Band „Stunde der Rache“ (zu dem Zeitpunkt noch mit dem Arbeitstitel „Hinterland“):

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Die Handlung der knapp 470 Seiten spielt an fünf aufeinanderfolgenden Tagen, bei jeder agierenden Person wissen wir, um welche Zeit sie was macht. Es liegt in der Verantwortung des Lesers, sich darüber im Klaren zu sein, was zeitgleich passiert. Man muss also durchaus aufpassen beim Lesen.

Meine brennendste Frage ist deshalb: Wie um Himmels Willen behält man als Autor da den Überblick? Ich stelle mir großformatige Zeitstrahlen vor, mit Notizen gepflasterte Wände, große Pfeile usw. Wie lief das genau?

Ich habe beim Schreiben schon einige Seiten vollgekritzelt, aber eher, um mit Pfeilen und Gruppierungen plastisch zu machen, wer mit wem gegen wen arbeitet und wie die Verstrickungen sind. Ich arbeite viel im Kopf, z. B. beim Spazierengehen, und nutze Hilfsmittel wie graphische Darstellungen eigentlich nur, um das Unterbewusstsein anzuregen. Wenn da die Lampen angehen, ist das bei mir viel machtvoller, als alles, was man bewusst zu kontrollieren versucht. Letztendlich schlägt die richtige Inspiration aus meiner Sicht jeden errechneten Plan.

Außerdem sucht man sich ja Genres und Formen aus, die einem liegen. Mir liegt das Komplexe und Überbordende. Insofern hatte ich nie wirklich das Problem, mich in der Handlung zu verlieren oder selbst den Überblick über die Welt und die Geschichte zu verlieren. Die Herausforderung war eher, im Großen und Kleinen die bestmögliche Übersetzung für den Leser zu finden. Dafür musste ich oft aus mir heraustreten und versuchen, die Geschichte unbefangen zu betrachten und das ist kaum möglich. Es wird umso schwieriger, je tiefer man selbst alles verinnerlicht hat.

Hast du dich mal richtig verzettelt? Bist du beim Schreiben in eine Sackgasse geraten? Musstest du eher hinzufügen oder löschen, bis das Buch so war, wie du es haben wolltest?

Wenn ich schreibe, passiert das fast rauschartig. In Sackgassen bin ich nicht geraten, aber beim Überarbeiten gab es Momente, an denen es zäh wurde. Der Anfang war zum Beispiel eine ziemliche Herausforderung. Ich musste ihn so gestalten, dass er für alle funktioniert und diese komplexe, verrückte Welt erlebbar macht, egal ob sie das erste Buch »Stunde der Rache« gelesen haben oder nicht. In Bezug auf das erste Drittel hat mein Lektor auch den größten Bedarf an Sorgfalt gesehen und mich immer wieder angetrieben, es noch weiter zu verfeinern und plastischer zu machen. Irgendwann war er begeistert davon und ich habe ihm zur Sicherheit noch einmal das ganze Buch geschickt, weil die Veröffentlichung anstand. Ich bin erleichtert mit meiner Freundin nach Prag gefahren und dachte, dass ich nun den Knoten durchgehauen hatte und alles seinen Gang nehmen kann. Zurück am Berliner Hauptbahnhof erreichte mich eine Mail von Daniele, dass der Anfang jetzt so gut sei, dass ich unbedingt die Mitte und den Schluss noch besser machen muss, damit alles aus einem Guss ist. Ich musste erstmal kurz um den Block gehen, aber dann habe ich mich entschieden, das Korrektorat abzusagen und habe noch einmal Monate am Text gefeilt. Es gab einige Stellen, an denen ich so entschieden habe. Es war am Ende immer gut und hat alles besser gemacht, aber im ersten Moment weint man etwas.

Und mit dem Löschen und Hinzufügen und so?

Das ging in beide Richtungen. Ich habe hinzugefügt, gelöscht, einzelne Passagen ganz neu eingefügt, aber am meisten wohl gelöscht. Die Dialoge sind manchmal ausgeufert. Ich wollte sehr viel erklären, damit sich niemand verliert, musste aber irgendwann einsehen, dass das Buch dadurch an Magie verliert. Ich habe gelernt, dass ich mein Bestes geben, aber auch dem Leser vertrauen muss.

Welches Viertel in Berlin Metropolis gefällt dir selbst am besten? Wo konntest du die Figuren am leichtesten agieren lassen?

»Nächte der Toten« fokussiert sich am meisten auf das Berlin der 20er-Jahre. Es war leicht, in diese Welt hineinzufinden und eine ganz spezielle Atmosphäre zu erzeugen, weil man so viele Bilder dazu kennt und sie so inspirierend sind. Es war eine verrückte Zeit damals zwischen den Kriegen, mit vielen Neuerungen und Extremen, mit Varietés und Bordellen, Glamour und Gangstervierteln. Berlin war schon damals ein Moloch, eine bunte, durchgeknallte Melange. Noch heute lebt die Stadt etwas von diesem Charme, der sich trotz oder sogar wegen der Diktaturen und ihrer Monstrosität entwickeln konnte. Ich habe diesen Geist in der Stadt oft gespürt und mir ausgemalt, wie es wäre, ihn noch einmal pur zu erleben. Auch daraus ist das Buch entstanden.

Es ist ja schon der zweite Thriller, der in Berlin Metropolis spielt. Hat sich beim Schreiben des zweiten Teils deine Wahrnehmung von der fiktiven Stadt verändert? Hast du neue Details eingefügt, die es im ersten Teil noch nicht gab?

Ich spreche lieber vom ersten Buch, weil alle Bücher sehr große Bögen haben und in sich abgeschlossen sind. Im ersten Buch habe ich mich noch geweigert, genau zu benennen, was in der Großen Katastrophe passiert ist, die die Welt so radikal verändert hat. Ich wollte das offen halten und die Fantasie der Leser anregen, habe aber eingesehen, dass es angemessener ist, den Lesern ein halbwegs fertiges Szenario zu liefern.

Ansonsten entwickeln sich die Charaktere natürlich weiter, intensivieren ihre Beziehung und geraten auf Abwege. Beim Ermittler Castorf z. B. wird im ganzen ersten Buch angedeutet, welche tragische Geschichte ihn umtreibt, aber erst im zweiten Buch werden die Details dazu geliefert. Im Prinzip sind die Bücher wie Staffeln einer Serie. Neue Figuren kommen hinzu, neue Türen gehen auf, andere schließen sich, aber im Grunde genommen geht man immer feiner hinein in die Geschichte an sich und die Geschichten der einzelnen Figuren.

Was inspiriert dich beim Schreiben? Wo bekommst du deine Ideen her?

Die Ideen für die Reihe habe ich bekommen, als ich als leitender Redakteur für ein Zukunftsmagazin tätig war. Generell kommen mir die besten Ideen beim Reisen. Leider klappt das gerade nicht so oft, wie ich es mir wünsche. Aber jede Zug- oder Busfahrt ist eine kleine Reise. Im Grunde muss ich nur in Bewegung bleiben, um zur Ruhe und zu Ideen zu kommen. So komisch das auch klingen mag.

Da Berlin ja wächst – auch in der Zukunft – könntest du dir vorstellen, Berlin Metropolis um weitere Viertel zu erweitern?

Das wird nicht passieren. Mit dem dritten Buch gehe ich in eine andere Stadt und zeige eine ähnlich verrückte, aber komplett andere Welt. Es kann sein, dass ich nach Berlin zurückkomme, aber generell beinhaltet das Konzept Metropolis-Reihe, dass mit ähnlichen aber stets neu durchmischten Ermittlern verschiedene Metropolen „bereist“ und Fälle gelöst werden. Wie es genau nach Buch III weitergeht, weiß ich noch nicht, aber Moskau wäre eines der möglichen ferneren Episoden, die die Ermittler vor neue Herausforderungen stellt. Die Auswahl ist groß, mal sehen. Paderborn kommt glaube ich nicht dran. ;)

Gibt es unter den Protagonisten Figuren, die dir lieber sind als andere, oder schreibst du alle Handlungsstränge gleich gern?

Ich kann nur Figuren entwickeln, die mir irgendwie auch nah sind. Bei mir sind die Charaktere auch nicht schwarz-weiß. Die Bösen sind auch ein bisschen gut und haben Qualitäten, die Guten haben ihre Schatten. Alle sind Menschen, viele kämpfen mit ihren Dämonen. Es gibt einige, die mir näher und lieber sind, aber alle haben ihren Platz. In gewisser Weise nimmt man als Autor eine Schöpferrolle ein, die sich etwas Neutralität bewahren muss. Man gibt Raum für Leben, es muss sich entfalten können, ohne dass man alles kontrolliert und wertet. Jede Figur ist Teil eines Planes, der als Gesamtes über allem steht. Das ist so notwendig und man nimmt das an, auch wenn man nicht mit jeder Figur gerne ein Bier trinken gehen würde.

Vielen Dank!

 

6 Kommentare
  1. Britta sagte:

    In der echten Zeit oder in der Zeit des Buches? Da ich beide Bücher nicht kenne, kann ich nur die echte Zeit nehmen und mich unentschieden geben: In die 20er Jahre will ich, weil ich mich bestimmten Schriftstellern in den Weg werfen will und wissen möchte, wie sie waren. Dabei hätte ich gern das gleiche Alter, das sie damals hatten, also für Kästner, Ossietzy und Tucholski irgendwas in den 30ern und bei Brecht was in den 20ern (also meinen). Manche Theaterleute möchte ich einfach mal sehen, da wäre mir mein Alter egal. Außerdem würde ich natürlich damals irgendwas richtig Feines so verstecken, dass ich es heute wieder ausbuddeln kann und JIPPIEH! bin ich reich wie Krösus. Ich habe gehört, das macht man so.
    In den Osten Berlins würde ich gern auch noch einmal einen Tag, weil ich gern manche Sachen nachgucken würde, an die ich mich nicht mehr richtig erinnere oder die ich damals nicht so genau geguckt habe – so oft war ich nicht da.
    2049 kann ich hoffentlich ohnehin noch nach Berlin fahren, das ist also nicht so dringend, abgesehen von meiner Neugier – aber die kann ich in 33 Jahren noch befriedigen.

  2. karin, sagte:

    Hallo und guten Tag,

    die 20. er -Jahre in Berlin sollen ja eine tolle Zeit gewesen sein , deshalb würde ich eher mal eine Zeitreise dort hin machen.

    Einfach ob der Neugier, ob es alles wirklich so stimmt.

    2049 in einer geteilten Stadt mit extrem Bedingung liest sich persönlich für mich jetzt nicht so prickeln bzw. erstebenswert an, auch wenn es nur für einen Tag wäre….

    LG..Karin…

  3. Daniela Schiebeck sagte:

    Dann im Berlin der 20er Jahre, weil ich mir die Zeit dort sehr faszinierend vorstelle und gerne sehen möchte, wie es vorher alles aussah.

    Liebe Grüße,
    Daniela

  4. diealex sagte:

    Ich würde gerne einen Tag im geteilten Berlin Ende der 70iger-Jahre verbringen, am liebsten natürlich auf beiden Seiten für den Gegensatz. Ich war damals noch zu jung, um nach Berlin zu fahren, aber es soll ja mächtig was losgewesen sein. Und ich würde dann auch gerne David Bowie und Iggy Pop treffen.
    Viele Grüße, die Alex

  5. Tiffi2000 sagte:

    Hallo,

    ich würde mich dann wahrscheinlich für die 20er entscheiden, da ich diese Zeit generell sehr spannend finde und mir vorstellen kann, dass es in Berlin zu dieser Zeit viel zu erleben gegeben hat…

    LG

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