Gedichte

Mit Gedichten tue ich mich seit jeher schwer, ich kann mich auf gereimte Texte schlecht konzentrieren, jedenfalls nicht auf den Inhalt. Da muss ich sie schon sehr oft hören.

Seinerzeit, als mein Bruder und ich noch bei unseren Eltern wohnten, wurde wochenends beim Frühstück gern ein Gedichtband gezückt. Entweder der Echtermeyer mit gemischten Gedichtgut oder Morgensterns Galgenlieder. Später kam „Der ewige Brunnen“ dazu. Ich kenne also die einschlägigen Balladen um John Maynard, unseren Steuermann*, ich weiß unter anderem, dass ihr links steuern müsst** und da noch ein Mann im Mast hängt.***

Wirklich geliebt habe ich aber immer Christian Morgenstern. 1994 bekam ich endlich meine eigene Galgenlieder-Ausgabe zu Weihnachten, ich war ausgezogen in die weite Welt und hatte Entzug. Das Buch strotzt nur so von Anmerkungen und Verweisen auf andere Gedichte, nie habe ich mich so intensiv mit neuerer deutscher Literatur beschäftigt wie in diesem Fall. (Ich habe mich sonst überhaupt nie freiwillig mit neuerer Literatur „beschäftigt“, ich habe sie immer nur gelesen.)

Ein Frevel, die Galgenlieder als Taschenbuch herauszugeben. Das fleddert doch nach 20 Jahren!

Ein Frevel, die Galgenlieder als Taschenbuch herauszugeben. Das fleddert doch nach 20 Jahren!

Wie es der Zufall so will, lagen neulich beim Abendbrot mit den Kindern die Galgenlieder auf dem Tisch. Neugierig wurde gefragt, ob das nur Blabla sei oder was zum Vorlesen. Ich las vor. Wir lasen und lasen, bis nun aber wirklich Bettzeit war und da wurde ich überredet, doch weiterzulesen und das abendliche Im-Schlafanzug-noch-was-vorgelesen-Kriegen einfach auszulassen.

In den Tagen danach zitierte die Tochter immer wieder „O greul, o greul, o ganz abscheul!“ und sagt bei jeder erwähnten Erkältung (was sich zu dieser Jahreszeit ja häuft): „Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse, auf dass er sich ein Opfer fasse.“

Auf ausdrücklichen Wunsch der Kinder wurde der Abend gestern wiederholt, die Bettzeit dramatisch um eine halbe Stunde überschritten und noch ein weiteres Buch gezückt: In den alten Beständen meiner Eltern fand ich neulich, ebenfalls von Morgenstern: Klaus Burrmann, der Tierweltphotograph. War mir völlig unbekannt. Herr Burrmann macht heimlich Fotos von Tieren, er ist dabei sehr gewitzt und verkleidet sich und die Kamera, wenn nötig, sogar je als Marabu. Es kommt einmal das Wort „Neger“ und einmal „Mohr“ vor. Ein Ausmaß, das Erklärungen zulässt.

Als Krönung der Bilderbuchfamilienidylle, als Alma uns den Rock vorgelesen hatte („von seiner Maus durchtrabt“! Hach!), verkündete Anton, dass er nun auch lesen können wolle. Ich erwäge die baldige Veröffentlichung des Ratgebers „Wie mache ich meine Kinder zu Strebern“.

Hinten im Buch fanden sich drei lose Seiten. Offenbar existierte das gleiche Buch zweimal und wurde einmal zerfleddert. Eine Doppelseite und eine einzelne sind übrig. Wer sie haben möchte, sage mir Bescheid. Sollten es mehr als zwei Personen sein, entscheide ich mich für diejenigen, die mir ein schönes Morgensterngedicht zitieren. Meine Entscheidung wird nach strikten und vollkommen subjektiven Gesichtspunkten gefällt. Ihr habt bis nächsten Dienstag (11.11., 11 Uhr) Zeit.

 

Vorder- und

Vorder- und

 

Rückseite der losen Blätter

Rückseite der losen Blätter

* Theodor Fontane: John Maynard
** Ludwig Giesebrecht: Der Lotse
*** Otto Ernst: Nis Randers

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