23.06.1946: Er war ein zauberhafter Junge (Friedrich)

Diesen Brief schrieb Friedrich an Rudu. Während des Krieges war jeglicher Kontakt abgerissen. Ich habe ihn stark gekürzt (es ging viel darum, wie das Gut gerettet werde könnte usw.) und einige Erklärungen eingefügt, um das Ganze etwas leichter verständlich zu machen. Dies ist nicht der erste Brief aus der Nachkriegszeit, ich habe ihn vorgezogen, weil er die Lage sehr gut zusammenfasst. Die Sachlichkeit des Briefes lässt mich schlucken.


R. den 23.6.46.

Lieber Rudolf,

Deine Briefkarte vom  11. vorigen Monats kam vor einigen Tagen hier an. Die Freude war gross besonders darüber, dass es Euch verhältnismässig gut geht. Hoffentlich kannst Du bald an Deinen Geburtsort zurückkehren. Seit 1938 haben wir uns nicht gesehen, Ende 1939 sogar die Verbindung miteinander verloren. Seitdem haben wir ungeheure Rückschläge miterleben müssen. Ich will versuchen, Dir das Hauptsächlichste der vergangenen Jahre mitzuteilen.

Nachdem das Hamburger Kontor geschäftslos geworden war, ging mein Vorschlag dahin,  das Gut in Mecklenburg zwecks völliger Sanierung und Auszahlung von Maria [ihr stand durch das Testament von Papa der Pflichtteil zu] zu verkaufen. Mama [Lenis Mutter] konnte sich hierzu jedoch verständlicherweise schwer entschliessen und wurde zudem im Jan. 40 schwer krank, sodass ein Umzug [in die Nähe von Hamburg], wie ich es vorgeschlagen hatte, nicht mehr möglich war. Infolgedessen musste das Elternhaus von Leni im Ort verkauft werden. Damals konnten grosse Häuser nur sehr schwer verkauft oder vermietet werden, sodass mich der endlich erzielte Preis von RM 70.000,– nicht sehr befriedigte. Hätten wir den Verkauf damals nicht durchgeführt, würde das Haus mit einer Fülle von Flüchtlingen belegt worden sein. In [diesem Vorort von Hamburg] hat jeder Erwachsene 4 qm und jedes Kind 2 qm Wohnraum zu beanspruchen. Die Ueberfüllung ist daher unbeschreiblich.

In dem Haus, das Leni und ich jetzt bewohnen, sind wir z. Zt. 28 Personen. Weitere Flüchtlinge werden erwartet. In ihrem Elternhaus mit im Garten aufgestellten Baracken leben jetzt schätzungsweise 150-200 Personen. Nachdem sich Mamas Zustand in der Mitte des Jahres 1940 etwas besserte, verschlechterte dieser sich bis zum Ende des Jahres  40, bis ein Schlaganfall ihr Leben beendete. Leni hatte sie mit grösster Aufopferung gepflegt, was umso schwerer war, weil sie am 30.6.40 unseren Sohn Christian bekam, der dann knapp 5 Jahre später auf der Flucht vor den Russen erschossen wurde. Er war ein zauberhafter Junge.

Im Jahre 1941 heiratete Albrecht Felicitas, deren 4. Mann er wurde. Im April 1946 liess er sich wieder scheiden und überliess seinen gutgeratenen Sohn Alexander seiner Frau, während er selbst vor etwa 14 Tagen Nina heiratete. A. ist beim Reg. Food Office tätig und kontrolliert verschiedene Kreise auf Abgabe von Milch, Eiern etc. Sein Sitz ist Itzehoe.

Da ich schon bei Ausbruch des Krieges der Ueberzeugung war, dass Deutschland nicht gewinnen konnte, habe ich immer versucht, das Gut in Mecklenburg in ein rentableres und weiter westlich gelegenes Gut umzutauschen. Leider scheiterten meine Bemühungen, die ich zusammen mit Dr. B. anstrengte, an Machenschaften des Mecklenburger Staatsministeriums. Letzteres liess einen Verkauf oder gar Tausch an Dritte nicht zu, sondern wollte mit allen Mitteln selbst in den Besitz des Gutes kommen. Der gebotene Kaufpreis war zwar nicht schlecht, aber nicht verwendbar, weil wir für Geld keinen Grundbesitz mehr erwerben konnten. Grundbesitz wurde nur noch in Nazikreisen gehandelt. Diese Kreise sorgten auch dafür, dass ich, obwohl ich in den Heinkel-Werken eine recht beachtliche Schlüsselstellung hatte, im September 44 noch eingezogen wurde. Leni wurde erheblich schikaniert. Dass die Russen das Gut einmal besetzen würden, hatte ich zwar gefürchtet, zuletzt aber doch nicht mehr angenommen, da die Amerikaner Ende April 45 schon [15 km westlich vom Gut] standen, während die Russen noch viel weiter entfernt waren. Dadurch erklärt es sich auch, dass Leni dort blieb, bis die Russen etwa [34 km östlich vom Gut] waren und es sich herausstellte, dass die Amerikaner zurückgingen. Ohne Telefon und mangels Elektrizität auch ohne Radio war die Lage völlig unübersichtlich.

Leni floh am 30.4.45 mit vier Kindern (Du wirst wissen, dass am 8.4.44 unser Sohn Hans geboren wurde), einer Gärtnerin und einer Hausgehilfin in drei bespannten Fahrzeugen. [45 km weit] ging alles leidlich. Dort geriet der Treck auf völlig verstopften Strassen in Tieffliegerbeschuss, durch den Leni, Helene, Klaus verwundet und Christian und die Gärtnerin erschossen wurden. Leni brachte Helene und Klaus nach Schwerin ins Krankenhaus, liess Hans zurück, um diesen gleich nachzuholen. Inzwischen hatten die Russen nachgedrängt, sodass Hans allein zurückblieb. Der Treck fuhr weiter und wurde stark ausgeplündert. In Schwerin musste auch der Treck haltmachen, und es ist der Hausgehilfin zu verdanken, wenn ein Rest der Sachen viel später R. erreichte. Leni blieb bis Mitte Juni 45 im Schweriner Lazarett und fuhr dann mit Helene und Klaus per Rad nach R. Schwerin war damals noch von den Amerikanern besetzt. Kaum war Leni im [Haus von Friedrichs Familie] eingezogen, als dieses Haus von den Engländern beschlagnahmt wurde. Leni konnte daraufhin erfreulicherweise den 1. Stock des inzwischen von mir erworbenen Hauses beziehen. Hans war also bei C. [wo der Beschuss stattgefunden hatte] auf dem Gute W. Der Gutsbesitzer Dr. P. wurde mit seiner Familie von den Russen auf ein Zimmer zusammengedrängt. Es gab keine Milch und sonstige Nahrungsmittel für Hans, sodass dieser, der bei dieser Behandlung schwer erkrankte, beinahe verhungerte bzw. gestorben wäre. Einer Nichte des Besitzers, die früher mit Leni die Malchower Schule besuchte, ist es zu verdanken, dass Hans uns erhalten blieb. Diese nahm sich seiner an und brachte ihn später nach Berlin, von wo Leni im September 45 hörte, dass der Junge dort und am Leben sei. Anfang Oktober fuhr Leni dann unter grössten Strapazen illegal über die Zonengrenze, um Hans aus Berlin zu holen. Sie erschien anlässlich dieser Reise Mitte Oktober bei mir in N. Lenis Leistungen waren tatsächlich ausserordentliche und wohl nur von denen voll zu würdigen, die die Verhältnisse in der russischen Zone kennen.

Nachdem ich von Sept. 44 bis Jan. 45 in Schneidemühl ausgebildet war – zwischendurch wurde ich mehrfach von Heinkel angefordert und war auch oft in N. – standen die Russen vor der Stadt. Meine Einheit wurde nach Arnswalde zurückgenommen und hatte monatelange Nah- und Strassenkämpfe zu bestehen. Am Tage der Kapitulation 1.5.45 lagen wir bei Fehrbellin. Ich schlug mich durch zum Gut, wurde vorher noch von den Russen gefangengenommen, konnte jedoch wieder entkommen. Am 8. Mai 45 traf ich am Gut ein, wo sich ein chaotisches Bild bot. Herr W. [der Verwalter, schon vor dem Krieg unbeliebt und später Erz-Nazi] hatte seine Kinder erschossen, seine Mutter erschlagen, während seine Frau und er trotz Selbstmordversuch durch Kopfschuss am Leben blieben.

Das Innere des Herrenhauses war völlig verwüstet. Wochenlang habe [ich] versucht, noch einiges durch Verstecken oder Vergraben zu retten, was später doch im wesentlichen durch plündernde Banden gefunden wurde. Gleichzeitig mussten umfangreiche Waldbrände gelöscht werden. Achimkultur und angrenzender Buchenunterbau waren auch hier nicht zu retten, obwohl ich teilweise mit 150 Mann arbeitete. Lastwagen fuhren vor dem Herrenhaus vor, und ich wurde oft gezwungen, die Möbel aufzuladen. Ein grosser Teil der Sachen verschwand durch die Deutschen. Auch die N. Gefolgschaft hat sehr enttäuscht. Nur Förster Eh., dessen Haus unbewohnbar geworden war und der im Mai 45 [bei der Familie des Fahrers] wohnte, unterstützte mich nach Kräften. Er wurde Ende Mai verhaftet. Ich glaube nicht, dass er je zurückkehren wird. Ende Mai wurde ich groteskerweise Bürgermeister von B. Anfang Juni wurde ich durch die GPU [Vorläuferin KGB] verhaftet und drei Monate lang bis zur gänzlichen Erschöpfung gefangengehalten. Ende August traf ich wieder am Gut ein und lebte dort in Ermangelung jeglicher Lebensmittel vom Hechtfang. Zwei Monate lebte ich so bis Leni erschien und wir zusammen nach Berlin fuhren, um Hans dort abzuholen.

Da wir mit Kind nur legal die Grenze passieren wollten, warteten wir fast einen Monat auf einen Transport, der Flüchtlinge vom Osten nach dem Westen bringt. Endlich glückte es uns, sodass wir nach beinahe 3-tägiger Reise verhältnismässig schnell den Ort bei Hamburg erreichten. Hier ist das Ernährungs- und Flüchtlingsproblem äusserst schwer lösbar. Ich habe eine recht gute Stellung innerhalb einer Hamburger Behörde angenommen, die mich stark in Anspruch nimmt.

Leni wird nächstens einen eigenen ausführlichen Brief an Euch schreiben. Sie hat wenig Zeit zum Schreiben. Die Führung eines Haushalts verursacht heute ungeheure Schwierigkeiten und Zeitverluste. In unserem Ort, in dem 250% Flüchtlinge wohnen, dauert das Einkaufen Stunden und ist zudem oft ergebnislos. Auf den Strassen hört man nahezu ausschliesslich ostdeutsche Laute, Bekannte trifft man selten. Geselligkeiten fallen ziemlich aus, da man sich gegenseitig nichts mehr vorzusetzen hat. Mit 1.000 kal. zu existieren, ist besonders wenn man für die Ernährung heranwachsender Kinder verantwortlich ist, nahezu ausgeschlossen. Das Betteln auf dem Lande erfordert Zeit und zermürbt wegen der allzu häufigen Ergebnislosigkeit. Die Landbevölkerung hat auch nichts mehr. Wenn der einzelne noch etwas haben sollte, so wird er überlaufen. Ihm werden ungeheure Beträge für 1 Zentner Kartoffeln gezahlt. Wertsachen, Stoffe, Schuhzeug etc. werden dem Bauer für lächerliche Quantitäten von Kartoffeln, Gemüse u. dergl. geboten. Um Dir einen Anhalt zu geben, sei erwähnt, dass in Berlin mehr als Rm. 1.000.—für einen Zentner Kartoffeln gezahlt werden. Wir haben seit langem keine Kartoffeln mehr, verteilt werden sie nicht. So ist also die Lage, über die noch viel – nur nichts Erfreuliches – zu berichten wäre. Die politischen Aspekte [wirst Du] von dort aus besser übersehen als ich denn „klar sieht, wer von ferne sieht“ hat der alte Laotse wohl schon zutreffenderweise gesagt.

Leni und die uns viel Freude machenden gesunden und auch noch ganz gut ernährten Kinder lassen herzlichst grüssen.

Viele Grüsse an Ingrid, Hertha und die jeweiligen Kinder von

Deinem

Friedrich

Lieber Achim,

Dieser Brief an Rudolf ist an Dich in gleicher Weise gerichtet, damit Du, soweit noch nicht von anderer Seite geschehen, eine ungefähre Vorstellung von den Ereignissen der letzten Jahre bekomm[s]t. Vielleicht könnt Ihr gelegentlich auch einmal Näheres von dort berichten. Es wäre nach Lage der Dinge wünschenswert, wenn wir uns mündlich unterhalten könnten. Aber wann und wo?

Herzlichst Dein

F


Die Ereignisse zusammengefasst:

1940: Lenis Mutter wird Anfang des Jahres zum Pflegefall und stirbt Ende 1940. Während dieser Zeit bringt Leni am 30.6. Sohn Christian zur Welt. Ihr Elternhaus wird verkauft, um Maria den ihr zustehenden Pflichtteil auszahlen zu können.

1941: Albrecht heiratet.

1944: Friedrich, der nicht in der NSDAP war, aber eine „kriegswichtige“ Position bekleidete, wird im September doch noch zum Wehrdienst eingezogen (vielleicht finde ich darüber noch mehr, es gab wohl Ärger mit irgendwelchen Parteifunktionären). Er wird in Polen ausgebildet und erlebt den Einmarsch der Russen.

1945: Ende April befinden sich die Amerikaner 15 km westlich von Lenis Gut. Sie wartet auf ihre Ankunft. Als die Russen 34 km östlich vom Gut ankommen, treten die Amis den Rückzug an. Leni flieht am 30.4. gen Westen. (Wie ich aus anderen Briefen weiß, waren schon wochenlang Flüchtlinge aus dem Osten bei ihr eingetroffen und weitergezogen.) Unterwegs gerät der Treck unter Beschuss. Leni, Helene und Klaus werden verletzt, Christian (knapp fünf Jahre alt) stirbt, die Gärtnerin wird schwer verletzt. Die Lazarettärzte in der Nähe ordern für Leni und ihre verletzten Kinder den Transport ins Krankenhaus Schwerin an. Der unverletzte Hans bleibt auf dem Gut W. zurück. Er ist ein Jahr alt. Einen guten Monat bleibt Leni mit den verbleibenden Kindern im Krankenhaus, bevor sie in Lenis Heimatort bei Hamburg gelangen. Inzwischen ist Friedrich zum Gut zurückgekehrt, wird in einem Nachbarort Bürgermeister und wenig später von den Russen verhaftet und drei Monate lang gefangengehalten. Im September kommt er wieder frei und kehrt zum Gut zurück. Mehrfach versucht Leni, Hans zu holen, es gelingt ihr jedoch nicht, bis zum Gut W. vorzudringen, wo der Beschuss stattgefunden hatte. Im September erfährt sie, dass ihr Mann Friedrich lebt und sich auf ihrem Gut aufhält. Hans ist inzwischen nach Berlin gebracht worden. Leni gelingt es, nach Berlin zu kommen. Von dort fährt sie zum Gut, wo sie Friedrich wiedersieht und mit ihm gemeinsam nach Berlin aufbricht. Um Hans legal über die Grenze zu bringen, warten sie fast einen Monat auf einen Transport. Nach dreitägiger Fahrt kommen sie im November gemeinsam bei Hamburg an.

Hans ist mein Vater.