16.02.1938: Süße Bilder von Tirili (Ingrid)
Gemein – die Bilder sind natürlich nicht mehr vorhanden. „Tirili“ oder „Tirilibi“ bezeichnet ein Baby oder eine Schwangerschaft. Leña ist Holz, chicharras sind Zikaden. „Mutti“ ist Ingrids, „Mama“ Rudus Mutter. Wer mir bei den Gardinen helfen kann, ist dazu hiermit herzlich aufgefordert. [Edit wenige Minuten nach Veröffentlichung: Das Rätsel wurde gelöst. Danke an Angela, Heike und Katja!]
V., 16.II.38
Meine liebe Leni,
Wenn ich Dir jetzt nicht schreibe, wird es vor unserer Abreise nach Dtschld. bestimmt nichts mehr! Zweimal schon wurde die erste Seite eines Bogens beschrieben, zuletzt fing ich einen Brief an Dich im schönen Tapachula Hotel an, woraus Du schliessen kannst, wie sehr mir ein Brief an Dich auf der Seele liegt. Es ist aber kaum wieder gut zu machen, dass Du weder zur Geburt Eurer Kleinen noch zu Weihnachten oder sonst etwas von mir vernommen hast, obgleich ich schon Zeit genug gehabt hätte zu schreiben. Und Leni, wie sehr haben wir in großer Mitfreude an Friedrich und Dich gedacht als Tirilibi zur Welt kam und haben uns so gefreut über alle guten Nachrichten über sie und Euch. Sei mir nicht böse, daß ich Dir das nie einmal sagte, es gibt keinerlei Entschuldigung für diese träge Schreibfaulheit.
Mutti und Hertha haben uns natürlich viel von Euch Dreien erzählen müssen, ich kann mir Tirili so gut vorstellen[,] Eure Seligkeit über sie, Eure nette Wohnung. Du schilderst Euer Leben so anschaulich in dem rührend langen Brief an Rudu u. mich und dann hast Du uns so lieb zu Weihnachten geschrieben, Auch las ich Deinen letzten Brief an Achim und Hertha – Leni, Du mußt wissen, wie mich das alles gefreut hat und wie oft meine Gedanken bei Euch waren. Ich freue mich unendlich auf den Augenblick, wo wir uns alle wiedersehen und male mir mit Rudu oft aus, wie schön es zusammen mit Euch in N. wird.
Jetzt aber erstmal innigen Dank für das ganz wonnige Dirndlkleidchen für Beate! Ich bin ganz glücklich, dass es noch zu groß ist, so ist die Vorfreude lang, und Du kannst sie später so recht darin erleben. So lieb ausgesucht hast Du es, der Stoff ist zu niedlich! Und dann, Leni, die süßen Bilder von Tirili, die uns eine große Freude gemacht haben. Ja, wie sieht sie Friedrich ähnlich und ist ja ein schnuckliges baby, urgesund und fidel! Wenn wir kommen, läuft sie uns vielleicht schon entgegen; diesem Quecksilber ist derartiges mit 9 Monaten ja durchaus zuzutrauen.
Seit Sonnabend (12.II.) sind Mama, Rudu u. ich hier in V., nachdem wir eine herrliche Autofahrt von der Finca durchs Hochland nach Guatem. gemacht hatten. 3 Jahre bin ich nicht in diesen Gefilden gewesen, deshalb wollte Rudu mich auch so gerne mithaben und so bleibt Mutti diese 14 Tage mit Beate in B., wo sie bei B.s ja gut aufgehoben ist und vor allem Beate ganz für sich hat, worüber sie glücklich ist. Ende Februar treffen wir uns alle in U. wieder, dann haben wir dort noch ca. 5 Wochen, bis es los geht. Den beiden Müttern haben wir mit unserer schlanken Linie keinen gelinden Schrecken eingejagt, so drangen beide sehr auf diese Reise, die von uns garnicht so „ersehnt“ war, d. h. wir freuen uns natürlich, aber Du weißt, wie gern wir hier sind.
Zu schön ist es hier wieder bei Achim und Hertha! Mama schläft oben im Haus, Rudu + ich bei F’s in dem wirklich wunderschönen kleinen Haus, dass mich [!] mit seinem hübschen roten Ziegeldach den selbstgefertigten Fliesen und schönen Hölzern sehr gefällt. Wie hat sich in der Zwischenzeit hier alles verändert! In den T.C. [?] Zimmern empfängt uns Ilschen mit Tüllscheibengardinen, kleinen Strickdeckchen/allüberall und einem „sehr strammen Sohn“ der einen immer ein bißchen verkniffen u. verärgert ansieht. Sie und er sind aber glückselig und das ist ja die Hauptsache. Furchtbar nett ist Frau F. mit dem netten holländischen Akzent, wie hat sie ihr Haus hübsch eingerichtet!
Rugi, Jörg, Harald das Prachtkleeblatt! Rugi und Jörg spielen chicharras-Jäger, sammeln diese quakenden Biester in ihren Hosentaschen, unter Kissen, in Tüten, fahren stets mit gleicher Begeisterung leña im camion und haben den ganzen Tag strahlende, blitzende Augen. Eigentlich wollten wir Bea mitnehmen, doch die Reise mit den Tausend dummen Formalitäten wäre zu umständlich mit ihr gewesen. –
Mama schlief in U. + B. mit ihr zusammen, war somit die „Nacht-Oma“, Mutti fütterte sie am Tag u. hieß „Ange“ (andre) Oma oder „Tagoma“. Beide wurden zuerst nur mit „Tante“ angeredet, aber Beate gewöhnte sich ziemlich schnell an beide. Sie spricht alles nach: Morgends begrüßt sie mich mit: „Morgen, Mama, slapen.“ (gut geschlafen) Ihr Schönstes ist das „Cafetrinken“ nach dem Mittagsschlaf, dann sitzt sie auf einem hohen Klavierbock zwischen Rudu u. mir, hält zierlich ihre kleine Mokkatasse in der dicken Patschhand, den kleinen Finger abgespreizt „wie Tante Dora“ sagt Rudu. Überhaupt isst sie schon ganz manierlich allein, in U. an ihrem kleinen Tisch und Stuhl. Vor ein paar Tagen sah ich hier zum ersten Mal den San Rafael Film und Beas ersten Schritte. Zu nett! Wie ist es sonderbar, sich selbst im Film zu sehen, man macht die komischsten Bewegungen, von denen man gar keine Ahnung hat. In der Zwischenzeit (zwischen Filmaufnahme und jetzt) hat sie viel dunklere Haare bekommen, auch die Augen dunkeln stark nach. Auf die kleine R. in Baluarte, die im selben Alter ist, ist sie nicht gut zu sprechen, die Beiden reißen sich das Spielzeug aus den Händen, retten sich in eine sichere Ecke, von wo aus sie das Errungene mit schubsen, beißen und kratzen verteidigen.
Mutti schwimmt, läuft mit spazieren u. schlachtet, wir sind viel mit ihr hier herumgefahren damit sie auch all die Fincas kennen lernt; zum Schluß fahren wir noch mit ihr durchs Hochland, sie ist ganz die Alte und genießt alles unendlich, besonders die süße Bea. Neulich machte sie Mutti ihren ersten Ritt. Meine Reithose passt famos.
Wie freuen wir uns auf N.!
Jetzt will ich aber schließen, gleich geht’s nach Nicó zu Frau M., die ich im August mit der neugeborenen Kleinen zuerst begrüßte in Guatemala. Süss ist die kleine Tochter von Kurt u. Vera N., ein ganz besonders nettes Ehepaar , ich war viel mit ihr zusammen und mag sie zu gern.
Leni, ich weiß nicht, ob Dich dieser Brief etwas versöhnt hat, aber ich glaube, es wird herrlich mit untern [unseren] beiden Bugis später, in Deutschld, und ich werde Nichtgeschriebenes mündlich ordentlich nachholen.
Grüsse an Friedrich, viele herzliche auch von Rudu, Eurem Tirilibi einen dicken Bubben und Dir viel liebe Gedanken von Deiner Ingrid.
Typisch für Ingrid, ist auch dieser Brief wieder etwas atemlos zu Papier gebracht. Eine Kostprobe von der dynamischen Schrift habt Ihr auf den Fotos. Ich kannte Ingrid nicht, frage mich aber, ob sie „in echt“ auch so überschwänglich war. [Edit 2: Verlässliche Quellen bestätigen meine Vermutung.]
Tüllscheibengardinen? ist ein Schnellschuss
Vielleicht heißt das mysteriöse Wort „Tüllscheibengardinen“? Es wäre zwar ein merkwürdiges „s“ bei den Scheiben, aber vielleicht ist ja ein s nach alter Art reingerutscht?
Interessant übrigens, dass die „Schreibarbeit“ inzwischen vom Bruder auf seine Ehefrau übergegangen zu sein scheint…
Hach, Ihr seid alle so toll! Ich habe die Tüllscheibengardinen schon eingesetzt. Dass das s komisch aussieht, ist kein Wunder. Ingrid hat es nicht so mit der leserlichen Schrift. Die Schreibarbeit ist nur vorübergehend bei ihr, demnächst kommt noch ein Brief von ihr, dann wieder lange nichts.